„Urfaust“ – digitale Unterhaltung beim virtuellen Theaterbesuch!
Theaterbesuch im Lockdown – geht nicht? Geht doch! Die Schülerinnen und Schüler der Q11 besuchten vergangenen Donnerstagabend gemeinsam den von Peter Oberdorf für das Landestheater Niederbayern inszenierten „Urfaust“ im online-Stream der Mediathek, vor- und nachbereitet in einer MS Teams-Sitzung, (zum Teil) theaterkonform gestylt in Sakko und Kleid vor roten Samtvorhängen als Bildschirmhintergrund!
Die ursprüngliche Sturm-und-Drang-nahe Version von Goethes Faust I kommt ohne Rahmenhandlung und Hexenküche, dafür mit dem klaren Schwerpunkt „Gretchentragödie“ auf die Computerbildschirme gestreamt. Der Plot der weltberühmten Tragödie bleibt unverfälscht – ein an sich, der Welt und einem unstillbaren Wissensdrang verzweifelnder Wissenschaftler lässt sich auf einen zwielichtigen Deal mit dem Teufel ein, um der Welt immer neue, bessere und tiefergehende Lusterfahrungen, Weltbegegnungen und Gefühlsregungen abzuringen, mit dem Ziel, möglicherweise einen einzigen Ausnahmeaugenblick zu erspüren, der die Welt kurz innehalten und das innerste Wesen Fausts mit allumfassendem Glück und Zufriedenheit durchströmen lässt. Auch diesmal gelingt dieses Meisterstück weder dem bei Oberdorf wieder einmal weiblich besetzten Mephisto mit langer Silbermähne noch dem frechen, etwas trotzig anmutenden Gretchen in weinroten Chucks! Am Ende liegt Faust reglos auf der Bühne, Gretchen lässt ihn und die irdische Welt hinter sich, sie überschreitet die Enge ihres Gefängnisses und geht gemeinsam mit ihrem Kind, das sie beim Übertritt in die sie befreiende „andere“ Welt als Puppe aus einem Rucksack zieht und wieder in ihre Arme schließt, in ein Licht, das sie ohne Vorurteile aufnimmt und ihr erlaubt, fern dem sozialen Druck der Gesellschaft der sensible, fürsorgliche Mensch zu sein, der in ihrem Wesen angelegt ist!
Die Inszenierung besticht durch eine fein austarierte Balance zwischen Originaltext und Moderne. Ein vielfältig bespielter Würfel bildet das zentrale Element des Bühnenbildes, immer wirkt er zu eng, ob als Studierzimmer, Gretchens Stube oder Zwinger in der Schlussszene! Marthe, als lüstern-biedere Nachbarin mit Tiger-BH unterm Schößchen-Kostüm, wohnt über Gretchen, auf dem Würfel also, und stellt dem Teufel dermaßen nach, dass der Herr der Hölle geradezu überfordert wirkt! So wird Auerbachs Keller, in dem gleich eine ganze Kiste voller Weinflaschen herbeigehext wird, als Sexclub in Szene gesetzt, besucht von derb-komischen, satirisch anmutenden Kunden, die mit Puppen ihre frivolen Spiele treiben. Während an dieser Stelle alle praktischen Formen des Liebesaktes zur käuflichen Lustbefriedigung nur allzu anschaulich demonstriert werden, wird die körperliche Liebe zwischen Gretchen und Faust, unschuldig händchenhaltend im Zentrum der Bühne stehend, in der Videoaufbereitung des Landestheaters mit naturwissenschaftlichen Modellaufnahmen des reinen Zeugungsaktes überblendet. Der Keim der Tragödie wird damit deutlich, aber abstrakt vor Augen geführt! Wenn Gretchen zuvor beim Picknick im Garten nach Wodka verlangt, wirkt die anschließend gestellte Gretchen-Frage ebenso verfremdet wie ihr naives „du musst“ dran glauben, das zu diesem quirligen Girlie einfach nicht passen will! Und der Zuschauer? Denkt nach!
Was bleibt nach diesem Theaterabend der besonderen Art am Ende in Erinnerung? Das ausdrucksstarke Spiel von Friederike Baldin, die ihr Gretchen in allen Szenen mit so viel Leben füllt, dass es unter die Haut geht; dass der Stream mehr als eine abgefilmte Bühne, sondern einen künstlerisch mit Licht, Musik, Farbe, Schnitt und Perspektive in Szene gesetzten Theaterfilm bietet; dass moderne Gretchen rauchen und Wodka trinken; und dass man, auch wenn alles geschlossen ist, sich auf unterhaltsame Weise die Kultur zu sich nach Hause holen kann!
Für Interessierte: die Q11 hat ihre Meinungen zum Urfaust in einem Kritik-Padlet zusammengetragen.