Sobald man in die erste Klasse kommt, lernt man lesen. Filme aber schauen alle Kinder mit großer Selbstverständlichkeit schon lange an, bevor sie lesen lernen. Wickie und die starken Männer etwa oder Harry Potter sind weithin bekannte Weggefährten aus Kindertagen. Dabei jedoch lernt kaum einer, Filme zu lesen. Filme zu sehen bedeutet nämlich sehr viel mehr, als sie bloß anzuschauen. Filmtexte sind genauso vielschichtig wie Schrifttexte. Filme sind in ihrer Rezeption ebenso komplex wie Bücher.
Der Schweizer Journalist und – wie er sich selbst nennt – „Filmleser“ Thomas Binotto, geboren 1966 in Baden, führte vergangenen Mittwoch deshalb in einer neunzigminütigen Filmlesung die Schüler der Oberstufe des Ludwigsgymnasiums in die Kunst ein, Filme nicht nur passiv zu konsumieren, sondern sie auch aktiv zu lesen. Vom Buchstaben zum Bildersturm – Literaturverfilmungen lautete das Thema des Vortrags. Dabei führte Binotto seinem jungen Publikum anhand des Klassikers L’Américaine von François Truffaut vor Augen, dass der Film eine riesige Illusionsmaschinerie ist. Eine Szene aus Der Herr der Ringe, die neben das dazu gehörige Storyboard gelegt wurde, illustrierte, wie Film entsteht, veranschaulichte die Auswirkungen minimaler Veränderungen auf die Bildgestaltung.
Zentral aber war die Botschaft: Der Film ist kein Abfallprodukt des Buches! Er ist ein unabhängiges Kunstwerk, verfügt über eigene Regeln und Gestaltungsmittel. Filmszenen vermitteln Erlebnisse, sie bieten den Stoff, sich mit zentralen Themen des Lebens auseinanderzusetzen.
Am Nachmittag schloss sich unter dem Motto Wer Filme liest, hat mehr vom Sehen eine dreieinhalbstündige Fortbildung für alle Deutschlehrer des Ludwigsgymnasiums an, die die Grundgedanken der vormittäglichen Filmlesung aufgriff und damit Impulse für den Einsatz von Film im Deutschunterricht setzte. Mit dem neuen bayerischen Lehrplan kommt dem Film künftig nämlich eine zentralere Bedeutung zu: Ein Film darf fortan im Sinne des erweiterten Textbegriffs eine Lektüre ersetzen. Dazu braucht es aber geeignete Analysemethoden und motivierende Herangehensweisen.
Am Ende standen viele Fragen, die Binotto vielschichtig und fundiert zu beantworten wusste. Dabei ging es um persönliche Filmprojekte. Um den schlechtesten Film aller Zeiten. Natürlich um Binottos eigene Filmvorlieben, der sich unter anderem als Serienjunkie outete. 6000 Filme besitzt er und ein eigenes Homekino. Und so verließ so mancher Luggy-Schüler die Aula, träumend von einem neuen Berufswunsch: Filmkritiker!